Drückende Melancholika

Wenn die Gedanken in der Dunkelheit versinken, sich die Seele den Schatten zuwendet und das Atmen einen Tanz in der Sinnlosigkeit vollführt, dann kann man sich in die Hände der Musik begeben. Musik, die einen versteht, die einen umarmt, einen fallen lässt. Die Schwärze im Kopf beginnt überhand zu nehmen und die Beats treiben den Menschen immer tiefer hinab, an Orte, die man noch nie gesehen hat, nie sehen wollte. Tiefer, immer tiefer…

Von Sebastian Binder  

Das Grau des Tages wabert langsam am Zimmer meines Fensters vorbei, träge schlägt der Regen gegen das Glas meiner Scheiben, bildet Rinnsale, die an der durchsichtigen Wand hinabrinnen, der Wind wirbelt tote Blätter in seltsamen Mustern durch das, was andere Menschen Luft nennen, als wäre dieser Zustand von einer verhängnisvollen Letztgültigkeit, deren Ausmaß kaum ein menschlicher Verstand heute noch überblicken kann. „Who loves the sun?“ fragen Nu und Yo Ke aus den Boxen meines Computers und ich antworte mit erstarrten Lippen: „Not everyone.“ David K schlägt vor, dass wir uns mal treffen, doch die Beataminsche Variante dieses „Meet you“ lässt mich weiter hinabgleiten in die Täler der Melancholie und ich fühle, nichts, alles, einen Schatten von Emotion, der vor meinen Augen zu tanzen beginnt, als ob ich ihn hören könnte. „And if you’re still breathing, you’re the lucky ones. ‚Cause most of us are heaving through corrupted lungs“, erzählt mir Daughter in „Youth“, während Alle Farbens Beat dem ganzen etwas Surreales verleiht, ein Tanz der dunklen Emotionen. Hat sie recht? Habe ich aufgehört zu atmen ohne es bemerkt zu haben? Sind wir dazu verdammt zu sterben, bevor wir unsere Träume erreichen? Batcher und Deemod holen mich von diesem Trip für den Bruchteil eines Wimpernschlags wieder herunter. „Agri“, denke ich, „was um alles in der Welt bedeutet Agri.“ Niemand antwortet mir und so lausche ich nur dem Piano, wie es im Beat versinkt, tiefer, immer tiefer, bis ich vergessen habe, woran ich eigentlich denken wollte. „Weep for yourself, my man, You’ll never be what is in your heart“, singt Nina Nesbitt und David Kellers Kreationen lassen meinen Kopf unwillkürlich nicken. „Little Lion Man“, war es tatsächlich nicht Dein Fehler, sondern mein eigener? Und wenn, wann hat dieser Fehler begonnen? Hat er überhaupt jemals aufgehört? Ich massiere meine Schläfen, als würde dies auch nur die absurdeste Form von Erkenntnis bringen. Versuche und Scheitern, Scheitern und Versuche.

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Plötzlich steht „Herr Lonnert“ vor mir und kurzzeitig schöpfe ich Hoffnung. Ron Flatters Kreatur ist jemand, der mich verstehen, der mich begreifen kann. Aber ist er das wirklich? Was kann Herr Lonnert wissen, was ich noch nie gewusst habe? Warum sollte ausgerechnet er mich verstehen, wenn sich seine Welt doch ausschließlich auf elektrokosmischen Ebenen abspielt? Womöglich sollte ich mich fallen, einfach fallen lassen, hinaus aus der Welt der Tristesse, hinein in das Universum des Nichtwirklichen, der vermeintlichen Leichtlebigkeit. Ludovico Einaudi gibt mir mit „Una mattina“ die Richtung vor und Nico Pusch wandelt sie immer wieder ab, entführt mich aus dem Dunklen, um dann doch nur wieder Schatten zu finden. Wo bin ich? Wer bin ich warum? Von Fern höre ich den Regen, er scheint immer noch an mein Fenster zu schlagen. Bin ich wirklich noch da?

„There’s no savin‘ anything, I was swallowing the shine of the sun“, sagt mir The National in „Runaway“. Was will nur David Keller die ganze Zeit von mir? Es gibt kein Sonnenlicht zum Verschlucken und selbst wenn, es würde mir wohl kaum schmecken. Stattdessen ist da der bittere Geschmack der Leere, als wäre man allein, niemals, für immer. „Strongest taste, loudest drop, head is filled, the thought, unlocked“, versichert mir Dillon. 13? 35? Was will sie mir sagen? Zumindest Thomas Lizzara scheint mit ihr übereinzustimmen, aber irgendwie hilft mir das im Moment auch nicht weiter. Ich gebe mich weiter den Schattentänzen hin, atme ihren minimalistischen Geruch, der sich so traurig über die Nüstern meiner Seele legt und alles, woran ich je glaubte zu glauben zu einer entrückten Farce werden lässt, deren Beschaffenheit in keinem Buch, keinem Lied, keinem Himmel je beschrieben worden ist. Heffner und Klein geben sich Mühe, mich zu beruhigen, mir zu sagen, dass es erst „Spätsommer“ ist, doch tief in mir drinnen weiß ich, dass sie lügen, dass der Sommer längst verschwunden ist, verglüht in einer Wolke der kalten Sinnlosigkeit. Ich meine, mich zurückzulehnen, zu atmen, obwohl es letzten Endes doch ohne Bedeutung ist. Und so verschwimmt alles, immer weiter, immer tiefer, der Strudel reißt mich hinab, zeigt mir Bilder, die ich niemals gesehen habe, niemals sehen wollte, nur um zu erkennen, dass es nichts zu erkennen gibt. Nur Schatten, keine Gesichter, nur Silhouetten, keine Wirklichkeiten. Ein Traum, den man tanzt, ein Traum, den man tanzt, wie Jonas Mantey, ein „Traumtänzer“. Ich schrecke hoch und ringe nach Luft. Wo bin ich? War es das tatsächlich, nur ein Traum? Nur ein Anflug von Finsternis, den es so nie gegeben hat, weil es ihn nicht geben darf? Für den Bruchteil einer Sekunde denke ich, weiß ich ahne ich, hoffe ich, dass ich recht habe…